Die Diskussionen Rund Um Eine Deutsche Leitkultur Führen Zu Nichts Gutem.
“Es geht ja um eine Volkskultur. Ich habe gerade schon gesagt, es geht um gemeinsame Prinzipien, gemeinsames Werteverständnis. Auch, dass man ein Lied oder eben auch ein Gedicht kann, dass man auch die Nationalhymne kann. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ich finde, dass das sehr niedrigschwellig ist. […] Bräuche sind ja manchmal auch sehr landsmannschaftlich. Ich bin jetzt Thüringer. Wir sind bekannt als Land der Dichter und Denker, aber bei uns gibt es auch die Bratwurst, um jetzt mal einen Brauch zu nehmen.“ Mario Voigt, CDU Thüringen
“Die Gesellschaft wird von gemeinsamen Werten konstituiert. Und natürlich gibt es unterschiedliche Lebensweisen. Und das Problem ist ja, dass die Kulturkämpfe von zwei Seiten geführt werden. Von einem ziemlich arroganten, eher privilegierten, auch grünen Milieu, großständisch geprägt, die ihre Lebensweise zu einzig progressiven erklären. Wo man sich dann schon rechtfertigen muss oder wo auch Menschen sich herabgesetzt fühlen, weil sie ein Verbrennerauto fahren, weil sie Fleisch essen. […] Ja, und ich finde, wir müssen das gemeinsame wiederfinden. Also ich finde, wer als Veganer leben möchte, wer in der Großstadt lebt, wer seine Wege mit dem Fahrrad macht, das ist doch okay, das ist doch seine Lebensweise. Aber der hat keinen Anlass und auch kein Recht, herabzusehen auf Leute, die eben anders leben und auch in der Kleinstadt anders leben müssen und die zum Beispiel ihr Schnitzel auch deshalb bei Aldi kaufen, weil sie sich den Bioladen gar nicht leisten können.” Sarah Wagenknecht vom Bündnis Sarah Wagenknecht
Diese beiden Zitate stammen aus der Sendung Hart aber Fair von letzten Montag. Der Titel war „Rechtsruck oder Kurs der Mitte: Soll Deutschland konservativer werden?“. Sarah Wagenknecht, die in Sachen Migration und Staatsangehörigkeit stramm auf - mindestens - CDU-Kurs ist, und Mario Voigt versuchten darin - mit eher mäßigem Erfolg - eine deutsche Leitkultur zu definieren.
Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU, sagte dazu Ende 2023: “Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen. Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden”. Staatsbürgerinnen waren wahrscheinlich mitgemeint; aber wer weiß das schon so genau bei der CDU.
Wenn sich nun eine Frau, die seit ein paar Jahren in Deutschland lebt und gerne die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen möchte (soll es ja geben), diese Sendung Hart aber Fair angeguckt hat, um zu verstehen, was es dafür braucht: Was hat sie gelernt? Sie muss Bratwurst essen oder darf mindestens keine Veganerin sein. Sie muss ein Verbrennerauto fahren (wenn sie es sich denn leisten kann) und sie muss mindestens ein deutsches Gedicht und ein deutsches Lied auswendig lernen. Und die Nationalhymne mitsingen können. Und wenn sie Letzteres kann, braucht sie dann noch ein weiteres Gedicht und ein weiteres Lied oder ist das damit abgedeckt?
Die CDU, andere Konservative und noch weiter rechts Stehende reden seit mindestens einem Jahrzehnt von der Notwendigkeit einer deutschen Leitkultur. Wenn sie im April 2024 in einer Fernsesendung gebeten werden, eine solche Leitkultur zu definieren, fällt ihnen immer noch nichts Besseres ein als das da oben. Wieso hat eigentlich niemand in den letzten Jahren mal klar definiert,was diese deutsche Leitkultur ist? Oder, noch besser, ein Regelwerk aufgestellt? Vor allem, wenn man will, dass ein Bekenntnis zu dieser Leitkultur die Grundlage für die Anerkennung der deutschen Staatsbürgerschaft sein soll. Braucht es dafür nicht klare Vorgaben, nach denen dann entschieden werden soll?
Dass dies eben noch nicht passiert ist, kann nur zwei Dinge bedeuten: Entweder können sie es nicht oder sie wollen es nicht. Ich vermute, es trifft beides zu, aber vor allem Zweiteres. Sarah Wagenknechts Äußerungen bei Hart aber Fair, zeigen warum: Es geht gar nicht um konkretes Handeln. Es geht darum, Emotionen zu schüren und zu polarisieren. Es geht um ein Wir gegen Die. Wir sind die guten Deutschen, die Fleisch essen und Verbrenner fahren, und Die sind alle, die entweder anders aussehen als „Wir“ oder zumindest anders leben wollen.
Ich gebe es zu: Ich lebe sehr gerne in Deutschland und genauso gerne in Europa. Und ich interessiere mich sehr für deutsche und europäische Kultur und Geschichte. Doch wenn ich „Leitkultur" in Verbindung mit „Deutsch“ höre, dann denke ich eher an dunkle Momente der Geschichte. In dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass über deutsche Leitkultur seit Jahren nur dumm dahergeredet wird und nichts Konkretes dabei rum kommt, zwar schlimm genug, aber nicht das Schlimmste.
Schlimmer wäre es, wenn wirklich Menschen wie Friedrich Merz, Mario Voigt oder Sarah Wagenknecht entscheiden könnten, zu welchem Liedgut, welchem Gedicht, welcher Mahlzeit oder welchem Fahrzeug man sich bekennen müsste, um eine richtige Deutsche sein zu können. Oder, nochmal schlimmer, wenn Menschen wir Alice Weidel, Tino Chrupalla oder Björn Höcke entscheiden dürfen, welche Hautfarbe man haben muss.
Für alle, die versuchen, eine deutsche Leitkultur zu definieren: Wenn man über Kultur und Bräuche redet, die Deutschland ausmachen, darf man sich eben nicht nur die Bratwürste…sorry…Rosinen rauspicken.
Ich empfehle da zum Beispiel:
Heinz-Rudolf Kunze, als er noch erfrischend wütend war und sein persönliches Deutschlandlied Deutschland (Verlassen von allen guten Geistern): „Verlassen von allen guten Geistern, von schweren Schatten lückenlos umstellt. Bewohnt von einem strammen Stamm von Meistern, und morgen die ganze Welt.“
Oder die Todesfuge von Paul Celan: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau“
Oder Heinrich Heines Harzreise: “Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.”